Was ist Waldorfpädagogik?

Die erste Waldorfschule 1919

Die erste Waldorfschule wurde 1919 in Stuttgart auf Initiative des Unternehmers Emil Molt eröffnet. Er wollte den Kindern der Arbeiter seiner Zigarettenfabrik Waldorf Astoria eine gerechte Schulbildung ermöglichen. Unabhängig von sozialer Herkunft, Begabung und späterem Beruf sollten junge Menschen gemeinsam lernen. Emil Molt gewann für die Aufgabe der Schulgründung Rudolf Steiner. Dieser erarbeitete mit dem ersten Lehrerkollegium die Menschenkunde und den Lehrplan der Freien Waldorfschule. Am 7. September 1919 wurde die Schule feierlich eröffnet.

Entwicklungsorientierte anthropologisch begründete Bildung

Waldorfschulen bieten einen Bildungs- Lebensraum, in dem Schüler/innen sich mit ihren individuellen Entwicklungsbedürfnissen als ganze Menschen im Denken, Fühlen und Wollen entfalten können. Die Pädagogik möchte fordern und fördern gemäß der persönlichen Begabungspotentiale. Deshalb sind Waldorflehrplan, Unterrichtsinhalte und Unterrichtsformen auf altersspezifische Formen des Lernens und die Stufen menschlicher Entfaltung in Kindheit und Jugend abgestimmt. Bildungsziel ist der freie Mensch, der aus Verantwortung handelt.

Lernen im sozial stabilen Klassenverband - kein Sitzenbleiben

Die gemeinsamen Bildungserlebnisse in der Klassengemeinschaft sind ein wichtiges soziales Lernfeld. Alle Schüler und Schülerinnen durchlaufen ohne Sitzenbleiben 12 Schuljahre. In einem stabilen sozialen Milieu lernen die Schüler/innen, sich mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten zu wertschätzen und in gemeinsamer Interaktion langfristige Lernprozesse zu gestalten. Binnendifferenzierung ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges pädagogisches Instrument.

Epochenunterricht: Intensives Lernen, Bindungen zur Welt aufbauen

Der Lehrplan der Waldorfschulen ist auf die Vielfalt der in den Kindern liegenden seelischen und geistigen Veranlagungen und Begabungen ausgerichtet. Ein wichtiges Mittel, um den Unterricht ökonomisch zu gestalten, ist der Epochenunterricht. Er wird in den Fächern durchgeführt, in denen Sachgebiete in sich geschlossen behandelt werden können (Deutsch, Geschichte, Mathematik, Naturwissenschaften usw. ). Gebiete, die laufender Übung bedürfen (künstlerischer Unterricht, Englisch, Französisch, Russisch - Fremdsprachen vom 1. Schuljahr an), werden in Fachstunden erteilt, wobei auch hier manche Waldorfschulen in den letzten Jahren verstärkt Epochenunterricht durchführen.

Unterricht in der Klassenlehrerzeit: Die Welt erfahren

Die Schüler/innen haben in den ersten acht Schuljahren eine Klassenlehrerin oder einen Klassenlehrer, der mit der Klasse den Epochenunterricht gestaltet. In diesem ersten großen Entwicklungszeitraum werden die Unterrichtsinhalte in bildhafter Weise so behandelt, dass die Schüler durch das ästhetisch Anschauliche das Gesetzmäßige und Wesenhafte der Dinge im Sinne echter Bilder verstehen und erleben.

Fremdsprachunterricht von 1-13: Sprachenlernen und interkulturelle Verständigung

In der Waldorfschule werden ab dem ersten Schuljahr zwei Fremdsprachen unterrichtet. Die Schüler*innen haben so die Möglichkeit, in den ersten Schuljahren das Besondere menschlicher Sprache erlebend zu erfahren. Dann tritt neben das mündliche das schriftliche Lernen, um sich in einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist, immer differenzierter und qualifizierter orientieren zu können. Durch die Erfahrung mehrerer Sprachen über die gesamte Schulzeit hinweg wird in besonderer Weise auch ein interkulturelles Bewusstsein veranlagt.

Wissenschaftlicher Unterricht: Phänomenologie und Symptomatologie

In den Individualisierungsprozessen des Jugendalters sucht der Mensch nach persönlichen Orientierungen und Handlungsmotiven. In dieser Entwicklungsphase haben wissenschaftlich ausgerichtete Fächer die besondere Aufgabe, eine individuelle Urteilsbildung und Perspektiven persönlichen Handelns anzuregen. Durch die besonderen wissenschaftlich methodischen Ansätze phänomenologischer und symptomatologischer Betrachtungsweise sollen die Schüler*innen angeregt werden, sich mit den Zusammenhängen und Fragen des Lebens auseinanderzusetzen und eine persönliche Bindung an die Welt zu finden.

Handwerklich-künstlerischer Unterricht: Greifen und Begreifen

Vom 1. Schuljahr an soll ein vielseitiges abwechslungsreiches Angebot künstlerischer und handwerklicher Fächer die Schüler/innen nicht nur in ihrer kognitiven Leistung fordern und fördern, sondern besonders durch die Entfaltungsmöglichkeiten von Phantasie und Kreativität, durch Geschick und Können der Hand dazu anregen, die Potentiale ihrer Persönlichkeit zu entdecken und zu bilden, die leider in schulischer Bildung oft vernachlässigt werden, die aber zur Bildung des ganzen Menschen dazu gehören.

Abschlüsse/Zeugnisse: Befähigungen dokumentieren

Waldorfschulen ersetzen das übliche Notenzeugnis durch ein differenziertes Textzeugnis, das detailliert die Leistung, den Leistungsfortschritt, die Begabungslage, das Bemühen in den einzelnen Fächern durchsichtig macht. Die Schüler schließen die Schule mit der Mittleren Reife, Fachhochschulreife oder dem Abitur (nach dem 13. Schuljahr) gemäß den in den Bundesländern jeweils geltenden Regeln ab.

Selbstverwaltung: Eltern und Lehrer gestalten ihre Schule

Als Schulen in freier Trägerschaft gestalten Waldorfschulen ihr eigenes pädagogisches und schulisches Profil. Die Schulführung und Entwicklung ist in intensiver Zusammenarbeit mit den Eltern selbstverwaltet organisiert. Die Selbstverwaltung ist ein zukunftsorientiertes soziales Erfahrungs- und Gestaltungsfeld, das neue Formen der Organisation von Schule erprobt. Die pädagogische Leitung wird von der Konferenz der Lehrer/innen wahrgenommen. Im Mittelpunkt allen pädagogischen Bemühens stehen die konkret vor Ort zu leistende pädagogische Arbeit und die Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik.

Waldorf weltweit

Waldorfschulen gibt es weltweit auf allen Kontinenten und in den unterschiedlichsten Kulturen. Waldorfpädagogik erweist sich in der Praxis als eine auf die Bildung des Menschen zielende Pädagogik, die nicht ideologischen oder funktionalen Forderungen einzelner Gesellschaften folgt, sondern ein pädagogisches Angebot für alle diejenigen Menschen ist, die in ihr etwas berechtigtes sehen und sie in ihrem kulturellen Kontext ausgestalten möchten.